„Der Zahlendieb“ ist eine autobiografische Betrachtung des Autors Oliver Sechting auf sein Leben mit einer Zwangserkrankung. Der Zwang des Autors besteht aus einem Zwang zu zählen, was auch den Titel des Buches erklärt.
Oliver Sechting ist Autor, Sozialpädagoge und Filmschaffender im Dokumentarbereich und hat eine Leidenschaft für Zahlen. Doch genau genommen, geht diese Leidenschaft weit über das übliche Maß hinaus. Er hat eine Zwangsstörung, die mit der Zahl „7“ zu tun hat, diese Zahl oder besser das Zahlensystem gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit, ein Gefühl, das ohne eine Zahl fehlt.
In seinem Buch „Der Zahlendieb“ erzählt er nun, gemeinsam mit Co-Autorin Karen-Susan Fessel, von seinem Leben mit der Zwangsstörung beziehungsweise mit Zwangsstörungen. Dabei erzählt er aus seiner Kindheit, die auf den ersten Blick ganz normal zu verlaufen schien. Dennoch gab es seit dem 11. Lebensjahr eine Veränderung, die sein Leben weit über die Kindheit hinaus verändern würde.
Die Veränderung blieb jedoch zunächst im Verborgenen da er durch ein stabiles Netzwerk aus Freunden, Bekannten und Verwandten geschützt wurde und sein Leben in vorherbestimmten Bahnen verlief. Bei den Sportarten wurde einiges ausprobiert, wobei er bei all seinen Versuchen nichts Passendes fand und zu seinem Hobby, dem Briefmarken sammeln, zurückkehrte.
Dies änderte sich erst, als er im Alter von 11 Jahren sein Interesse an Briefmarken verlor und sich wenig später der Erforschung seines eigenen Körpers bis hin zur Sexualität widmete. Auch verliebte er sich zu diesem Zeitpunkt das erste Mal in einen Jungen und das in einer Zeit, in der Homosexualität noch lange nicht zur Tagesordnung gehörte.
Doch zum Grübeln bleibt ihm keine Zeit, denn nach dem Belauschen eines Telefonats seines Vaters reist er mit Tante Thea, Onkel Reinhold und seinem Cousin Moritz nach Teneriffa. Nicht wissend, dass sein Vater schwer erkrankt ist und sich einer Operation in München unterziehen muss, die der Vater vorher ihm gegenüber als Mandelentzündung abgetan hat.
Tatsächlich handelt es sich allerdings um eine Krebserkrankung, die wiederum sein Leben komplett auf den Kopf stellte, da er mit ansehen musste, wie sein Vater aufgrund des Krebs‘ an Gewicht sowie Kraft verlor und kurze Zeit später an der Krankheit starb.
Die Zeit der Zahlen
Kurze Zeit später entwickelte er seine Leidenschaft für Zahlen, die mit der Zeit immer zwanghafter wurden. Angesichts der Vorgeschichte könnte man als Leser auf die Idee kommen, dass dies eine direkte Folge des Todes seines Vaters war.
Die nun folgenden Ausführungen und Erfahrungen, die er im Verlauf seines Lebens mit der Krankheit sammelte, machen jedoch deutlich, dass es eine Vielzahl von Faktoren gibt, die seine Zwangsstörungen begünstigen und fördern. Gleichzeitig zeigt er aber auch, dass ein Erwachsener anders mit diesen Zwängen umgeht, als ein Kind.
Vermittelten ihm die Zwänge ein Gefühl von Sicherheit? Dieses könnte mit Sicherheit anhand seiner Biografie begründet werden, denn alles in seinem Leben strahlte -gerade nach dem Tod seines Vaters- eine Art Ungewissheit aus. Somit ist es für mich logisch nachvollziehbar, dass er nach allem suchte, was ihm Sicherheit vermittelte.
Diese Unsicherheit zeigte sich auch in seinem – alles andere als gleichmäßigen – Alltag, den er irgendwo zwischen Familie und Beruf und teils im Verborgenen erlebt. Er war immer ein Mensch, dem es darum ging und gehen musste, für gute Laune zu sorgen und dabei häufig seine eigenen Wünsche und Ängste hinten anstellte.
„Der Zahlendieb“: Eine erschütternde wie aufrüttelnde Biografie
Betrachten Sie als Leser den Erfahrungsbericht des Oliver Sechtings nun etwas genauer, so fällt auf, dass diese zu Beginn scheinbar normale Biografie einige Abweichungen aufweist. Der Stil in dem Oliver Sechting seine Geschichte erzählt ist dabei weder beschönt, noch ins negative hingezogen.
Tatsächlich zeigt diese Biografie, wie viel Normalität in einer Zwangsstörung verbleibt, mal mehr – mal weniger. Ich weiß an dieser Stelle nicht, wer „Der Zahlendieb“ von Oliver Sechting oder auch diese Rezension möglicherweise lesen wird und mit welcher Motivation, kann aber sagen, dass der Erzählstil des Buches pragmatisch und verständlich ist.
Dabei geht es ihm bei seiner aufrüttelnden Biografie nicht darum, Mitleid zu erregen, sondern eher darum, die psychologische Besonderheit vorzustellen und greifbar werden zu lassen.
„Der Zahlendieb“ von Oliver Sechting: Sprachliches
Bei diesem Buch gibt es eigentlich keinerlei sprachliche Besonderheit. „Der Zahlendieb“ ist sehr dicht am Alltags des Autors geschrieben und doch, gibt es eine Auffälligkeit. Diese zeigt sich in der sprachlichen Exaktheit und in der Liebe zum Detail.
Dabei ist Oliver Sechting keinesfalls detailverliebt, sondern er erscheint im Umgang mit Zahlen besonders genau. Das ist ein wesentliches Merkmal seiner Zwangsstörung, würde ich zunächst einmal annehmen.
Doch mag diese Tatsache möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass er sich einfach exakt an die für ihn prägenden Situationen und Ereignisse erinnert. Diese waren für ihn prägend und haben ihn zu dem Menschen geformt, der er jetzt ist.
Für wen das Buch eigentlich geschrieben wurde…
Stellt sich die Frage, für wen das Buch „Der Zahlendieb“ von Oliver Sechting eigentlich geschrieben wurde. An dieser Stelle zögerte ich lange, denn meiner Ansicht nach könnte dieses Buch sowohl für Betroffene als auch für interessierte Angehörige geschrieben worden sein.
Einzig die im therapeutischen Umfeld arbeitenden Menschen sehe ich nicht als klassische Zielgruppe, denn diese Biografie hat wenig klinische, aber dafür sehr viele persönliche Elemente. Gleichwohl muss ich an dieser Stelle sagen, das auch der klinische Mitarbeiter aus dieser Autobiografie Rückschlüsse ziehen könnte, die jedem Einzelnen gewissermaßen helfen würde.
Doch hat „Der Zahlendieb“ von Oliver Sechting tatsächlich die Intention, Menschen helfen zu wollen, oder geht es eher darum, alle übrigen, die nicht mit Zwangsstörungen zu tun haben, darüber aufzuklären?
Die aufklärerische Komponente bei diesem Buch tritt eher unterschwellig im Rahmen einer aufklärenden Geschichte zu Tage, bei der der Autor aber keinesfalls den belehrenden Zeigefinger hebt, sondern einfach beispielsweise darüber informiert, welche Folgen durch Zwangsstörungen auftreten können.
Meiner Ansicht nach kann „Der Zahlendieb“ von Oliver Sechting im Hinblick auf das Verständnis dieser Erkrankung und den daraus folgenden Umgang mit Betroffenen gut helfen.
Zwänge: von Zwangshandlungen und Zwangsgedanken
Dass viele Betroffene insgeheim unter einem Zwang leiden ist für einen Außenstehenden nicht immer zu erkennen, denn neben den Zwangshandlungen gibt es auch Menschen, die unter Zwangsgedanken leiden.
Man könnte auf die Idee kommen, dieses mit einer einfachen Grübelei und einem Gedankenkarussell zu vergleichen, doch einem zwanghaften Gedanken passiert noch etwas anderes. Nicht nur bleiben die Gedanken zwanghaft einen im gleichen Thema, vielmehr ist eine Wenn-Dann-Folge.
„Wenn ich XYZ nicht tue, passiert ABC.“ Der Betroffene stellt sich also vor, dass ein bestimmter Gedanke oder eine Handlung, die er nicht in die Tat umsetzt, eine bestimmte Folge hat. Diese Korrelation bedingt eine Abhängigkeit.
Für einen Betroffenen können Zwangsgedanken genauso problematisch sein, wie Zwangshandlungen, allerdings sieht man Zwangsgedanken nicht. Somit ist es nur denkbar, dass der Leidensdruck der Betroffenen nicht wahrgenommen wird, sofern Zwangsgedanken nicht geäußert werden.
Genau aus diesem Grund ist es auch wichtig, über die entsprechenden Zwänge, ob nun Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen, zu sprechen.
Die autobiografische Betrachtung „Der Zahlendieb“ von Oliver Sechting ist genau ein solcher Versuch. Dieses Buch kann nämlich dazu dienen, sich mit anderen über Zwänge auszutauschen und könnte somit tatsächlich für viele Betroffene eine erste Hilfe darstellen.
Über den Autor und weitere Mitwirkende
„Oliver Sechting, geb. 1975 in Göttingen, lebt in Berlin. Er arbeitet im Dokumentarfilmbereich und als Diplom-Sozialpädagoge.“ (Balance Verlag) Darüber hinaus gibt der Autor auf seiner Internetseite oliversechting.de weitere Informationen über seine Vita und seine aktuellen Projekte.
„Karen-Susan Fessel ist Autorin von mehr als dreißig Romanen und Erzählungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die teils mehrfach ausgezeichnet und übersetzt wurden.“ (Balance Verlag) Auch über sie findet man auf Ihrer Website karen-susan-fessel.de diverse Informationen sowie aktuelle Projekte.
Fazit zu „Der Zahlendieb – Mein Leben mit Zwangsstörungen“ von Oliver Sechting mit Karen-Susan Fessel
„Der Zahlendieb – Mein Leben mit Zwangsstörungen“ von Oliver Sechting mit Karen-Susan Fessel ist ein Buch, das zeigt, dass die Lösung für gewisse Probleme ganz simpel sein können, aber eben doch zu einem großen Fortschritt führen können.
Dieses Buch zeigt aber auch, dass man Menschen am Besten so nehmen sollte, wie sie sind und Ihnen so begegnet, wie man selbst behandelt werden möchte. Manchmal kann ein Zettel mit einer groß aufgeschriebenen „7“ schon eine Hilfe sein.
Nach der Lektüre von „Der Zahlendieb“ bin ich mir sicher, dass es sicher angenehmer ist, keine Zwangsstörungen zu haben, für die Betroffenen ebenso wichtig, dass man auch als nicht Betroffener und nicht Angehöriger darüber informiert ist. „Der Zahlendieb“ lädt also dazu ein, genauer hin zu schauen und zu hinterfragen.